Arbeit und soziale Fairness

Ein Dossier der Katholischen ArbeitnehmerInnen Bewegung Österreichs als Beitrag zum Synodalen Weg von Papst Franziskus.
In Krisenzeiten und ihren Folgeerscheinungen zeigt sich die Verfasstheit einer Gesellschaft, ihre
Stabilität, aber auch ihre Bruchlinien und Gefährdungen. Die Covid‐Pandemie zeigt bereits deutliche
Folgen. Was die gegenwärtige Kriegssituation in der Ukraine, in Europa und darüber hinaus, für
Gesellschaft und Wirtschaft bedeutet, wird ist erst in Ansätzen spürbar. Nach dem methodischen
Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln werden hier im Rahmen des synodalen Prozesses der KAÖ die
zentralen Fragen nach Arbeit und sozialer Fairness beleuchtet.

1. SEHEN
Die Arbeitswelt unterliegt, wie alle anderen Wirtschaftsbereiche, den Gesetzmäßigkeiten der
neoliberalen Marktwirtschaft. Arbeit ist in diesem System auf einen Kostenfaktor reduziert. Er muss
so niedrig wie möglich gehalten werden, damit Betriebe konkurrenzfähig bleiben. Das spürendie
Akteur:innen der Arbeitswelt auf allen Ebenen und in allen Branchen. Arbeitsverdichtung und
Flexibilisierung der Arbeitszeit nach betrieblichen Anforderungen erschweren vielen Menschen den
Arbeitsalltag. Gemeinsames Leben in Familie und Gesellschaft kommt immer mehr unter Druck.
Prekäre, schlecht bezahlte und unsichere Arbeitsverhältnisse nehmen zu.
Die Krise betrifft alle, doch nicht alle gleich. Zu Beginn der Pandemie verloren viele Menschen ihren
Arbeitsplatz, die Arbeitslosigkeit stieg auf eine Höchstmarke. Das traf vor allem Arbeiter:innen,
Beschäftigte in den unteren Einkommensschichten und Ältere. Wegen der in Österreich niedrigen
Nettoersatzrate beim Arbeitslosengeld von 55% sind vor allem Langzeitarbeitslose akut
armutsgefährdet, und viele von ihnen tatsächlich von Armut betroffen. Auch wenn derzeit nach
Arbeitskräften gesucht wird sind nach wie vor viele Menschen langzeitarbeitslos und durch
gesundheitliche Einschränkungen oder Mobilitätshindernisse ohne Chance auf einen nachhaltigen
und guten Arbeitsplatz. Mehr als ein Drittel der Menschen hat Einkommensverluste erlitten, vor
allem in den unteren Einkommensgruppen. Für sie geht es schnell um die Existenz.Für Vermögende
hat die Krise oft den gegenteiligen Effekt, sodass es zu einem Vermögenszuwachs kam, was im
Endeffekt die Schere zwischen Arm und Reich auch in Österreich aufgehen lässt.
Die Covidkrise hat den gesamten Dienstleistungbereich in den Fokus gerückt. Die Beschäftigten im
Bildung‐ und Kinderbetreuungsbereich, in der Kranken‐ und Altenpflege, aber auch in Transport,
Logistik, Handel und Reinigung wurden als ‚systemrelevant‘ erkannt und definiert. In Österreich
halten über eine Million Menschen in diesen Beschäftigungsbereichen unsere Wirtschaft am Laufen
und sichern so die tägliche Versorgung aller. Im Unterschied zu den systemrelevanten Banken, die in
der Wirtschaftskrise 2008 mit Milliarden an Steuergeldern gerettet wurden, änderte sich jedoch
bisher nichts an der notorischen Unterfinanzierung, der geringen Wertschätzung und den schlechten
Arbeitsbedingungen in diesen Bereichen.
In diesem Zusammenhang ist auch der besondere Blick auf die Care‐Arbeit wichtig:Sorge‐Arbeit wird
überwiegend von Frauen,bezahlt und unbezahlt, geleistet. Wenn bezahlt, dann ist sie im Vergleich zu
anderen Branchen deutlich schlechter bezahlt. Hohe Teilzeitquoten, ein niedriger gewerkschaftlicher
Organisierungsgrad und die Erpressbarkeit durch die emotionale Bindung an die zu Betreuenden
erschweren den Kampf um adäquaten Lohn. Der eklatante Arbeitskräftemangel widerspricht dem
sonst beschworenen Marktprinzip, und bedeutet für die Beschäftigten eine massive Überbelastung.2
Frauen leisten auch den überwiegenden Anteil der unbezahlten Sorgearbeit. Sie ist die
Voraussetzung, damit Wirtschaft überhaupt funktionieren kann. Dennoch wird sie in der
volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung geflissentlich ignoriert. Während der Pandemie wurde
offensichtlich, dass Frauen im privaten Bereich viel mehr Hausarbeit, Kinderbetreuung und
Lernbegleitung übernommen haben, oft verbunden mit einer Reduzierung ihrer Arbeitszeit und/oder
erhöhtem Stress durch gleichzeitige Homework‐Leistungen. Die ungerechte Verteilung zwischen
Männern und Frauen geht auf Kosten der Frauen durch Mehrfachbelastung, geringe Einkommen,
Existenzsorgen und (Alters‐)Armut. Kinder sind durch familiäre Stresssituationen und Geldnöte
besonders belastet und tragen damit eine schwere Hypothek für ihre Zukunft.
Armutsgefährdet sind vor allem auch Beschäftigte mit Migrationshintergrund, und eine besondere
Situation haben die 24‐Stunden‐Betreuer:innen. Sie arbeiten vielfach als Scheinselbständige mit sehr
niedrigem Lohn und fehlender sozialer Absicherung. Als Teil einer globalen Betreuungskette
hinterlassen sie eine große Lücke in ihren eigenen Familien in den Herkunftsländern und im dortigen
Sozialgefüge.
Eine deutliche Veränderung in der Arbeitswelt bewirkte die Covidkrise durch Heimarbeit. Früher ein
eher negativ besetzter Begriff ist sie als ‚homeoffice‘ zum Hype geworden. Auch hier zeigt sich eine
Spaltung, denn für die meisten Arbeiter:innen ist homeoffice nicht möglich. Für viele Angestellte
stehen positive Effekte wie der Wegfall des Arbeitsweges problematische Seiten gegenüber, wie das
Verwischen der Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit, der Verlust von sozialen Kontakten und
Unklarheiten über den arbeitsrechtlichen Rahmen.
2. URTEILEN
Arbeit ist der Dreh‐ und Angelpunkt der sozialen Frage (Laborem exercens 3). Veränderungen in der
Arbeitswelt bewirken immer gesellschaftliche Veränderungen. Zu den polarisierenden Bewertungen
der Covidmaßnahmen kommen spaltende soziale Folgen der Epidemie. Ein gespaltener Arbeitsmarkt
hat eine hohe politische Polarisierung zur Folge. Einerseits erleben wir neue Arbeit in Form einer
Rückkehr der ‚Dienstbotengesellschaft‘, es wird ja dafür geworben von zuhause aus bequem zu
bestellen. Die Lieferung ins Haus soll jedoch nicht mehr kosten als der Kauf im Laden oder in der
Pizzeria. Den Preis bezahlen die neuen prekär Beschäftigten. So gibt es mehr wirtschaftlich und sozial
‚Abgehängte‘ aufgrund weniger Sozialleistungen. In Österreich stellt sich Sozialhilfe in neun
Bundesländern unterschiedlich dar, es fehlt eine für alle gleich zugängliche bundesweite
Mindestsicherung. Die ungleiche Verteilung der Güter lässt die Kluft noch größer werden:
Unsicherheit, Zukunftsängste, Brüchigkeit von Beziehungen, Vereinsamung erwirken einen sozialen
Ausschluss.
Die Folge: Ökonomische Ungleichheit zerstört die Demokratie.
Für drei Viertel der Menschen aus dem ökonomisch am meisten benachteiligten Drittel, stellt sich
jegliche Einflussnahme auf die österreichische Politik, als gar nicht existent dar. Dementsprechend ist
auch ihr Vertrauen in das politische System insgesamt sehr gering ausgeprägt. Das sinkende
Vertrauen in die Politik insgesamt geht Hand in Hand mit einem Verlust an Gesellschafts‐ und
Gemeinschaftsglauben. Begriffe wie Gemeinwohl haben keine Konjunktur.
Um dieser Entwicklung zu begegnen braucht es Mitsprache und Mitgestaltung und die dafür
wichtigen Rahmenbedingungen, wie barrierefreier Zugang zu Bildung und beruflichen3
Qualifikationen, Erwerbstätigkeit, gutes und leistbares Wohnen, Teilhabe an Kultur‐ und
Freizeitaktivitäten ‐ Ressourcen, die immer mehr Menschen in Österreich nicht haben.
Was steht auf dem Spiel?
Es ist bekannt, dass ehrenamtliches Engagement ähnlichen Kriterien unterworfen ist wie
Erwerbsarbeit. Wenn die Zahl der Abgehängten größer wird, und gleichzeitig die Erwerbsarbeit die
Menschen, die einen Arbeitsplatz haben immer mehr fordert, stellt sich die Frage, wer in Zukunft
Gemeinwesenarbeit machen wird. Das betrifft politisches Engagement auf Gemeindeebene genauso,
wie Mitarbeit in Vereinen und Initiativen. Der Blick in städtische Randbezirke, wie etwa in Frankreich
und Belgien, zeigt, wie groß das Aggressionspotential sein kann. Der soziale Friede ist akut
gefährdet.
Die Enzyklika Fratelli tutti stellt fest: „Manchmal reagieren die Ärmsten und Ausgestoßenen mit
antisozial erscheinenden Haltungen. Wir müssen begreifen, dass diese Reaktionen häufig mit einer
Geschichte von Verachtung und fehlender sozialer Eingliederung zusammenhängen.“ (234)
Die Bibel erzählt viele Geschichten, in denen es um die grundlegende Gleichheit aller Menschen als
Ebenbilder Gottes geht, ebenso um Gerechtigkeit im Sinne einer Ökonomie, in der es genug gibt für
alle. Die zentrale Botschaft ist die Verheißung des Reiches Gottes, und das meint ein gutes Leben für
alle (Joh. 10,10 „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“). Dabei haben
die sozialen Rechte der Armen Vorrang!
Im zentralen Gebet der Christ:innen, im Vater Unser bitten wir um das Kommen seines Reiches (ἡ
βασιλεία), das wir mit Gerechtigkeit verbinden: Gottes Wille (τὸ θέλημά σου) soll geschehen.
Dabeigeht esum die tägliche Existenz der Menschen, um das tägliche Brot ‐ heute! Das ist auch die
Herausforderung unserer Zeit. Reichtum auf der einen Seite heißt Schulden auf der anderen.
Im Vater Unser ist eindeutig von Schulden (ὀφειλήματα) und Schuldnern (ὀφειλέταις) die Rede und
davon, diese Geld‐Schuld zu erlassen. Nur so erhalten alle das tägliche Brot. Die Bitte, nicht in
Versuchung geführt zu werden, erhält so eine besondere Brisanz: Schulden eintreiben kann zu dem
werden, was letztendlich über das Leben der Schuldner verfügt und deren Tod in Kauf nimmt. Die
Versuchung (πειρασμόν) besteht darin, anderes an die Stelle Gottes zu setzen. Vor diesem alles
entscheidenden fatalen Fehlschluss soll Gott uns bewahren. Das tägliche Brot, die Schulden und die
Schuldner, sowie diese Versuchung gehören zusammen. Das ist ein höchst brisanter Zusammenhang,
der nicht auseinandergeteilt werden darf.
3. HANDELN
In Fratelli tutti mahnt Franziskus ein: „Wenn es um einen Neuanfang geht, müssen wir immer bei den
Geringsten unserer Brüder und Schwestern beginnen.“ (235). Daher ist eine solide Existenzgrundlage
ein Grundrecht. Das bedeutet faire Löhne, ein höheres Arbeitslosengeld oder auch ein
Grundeinkommen für alle. Die österreichischen Bischöfe machen sich im Pfingsthirtenbrief 2020
Sorgen um das Sozialfundament unseres Landes und fordern neue Formen der sozialen Sicherung.
Und weiter: „Ob ein erwerbsunabhängiges Grundeinkommen ein sinnvoller Weg ist, muss diskutiert
werden.“ In das gleiche Horn stößt Papst Franziskus in seiner Ansprache an die Volksbewegungen
schon zuvor am Ostersonntag 2020. Er meint, es kann nicht sein, dass jene, die am Rand der
Gesellschaft leben, die die Lösungen der Marktwirtschaft nicht erreicht, die auch nicht ausreichend
Hilfe und Schutz durch den Staat erhalten, warten sollen, „ob vom Tisch derer, die die wirtschaftliche4
Macht haben, vielleicht das eine oder andere Almosen zu ihnen hinabfällt.“ So kommt der Papst zu
dem Schluss: „Vielleicht ist jetzt die richtige Zeit über ein universales Grundeinkommen
nachzudenken, das die wichtigen und unersetzlichen Aufgaben anerkennt und würdigt, die sie
erfüllen; ein Einkommen, das den ebenso menschlichen wie christlichen Leitsatz dauerhaft
Wirklichkeit werden lassen kann.“ ‐ Das ist die Vision.
In der aktuellen Situation geht es um die Schaffung von gemeinwohlbezogenen Arbeitsplätzen,
denn es gibt gemäß der Menschenrechte ein Recht auf Arbeit und damit auf eine Absicherung für alle
Lebensphasen mit und ohne Erwerbsarbeit. Ein besonderes Augenmerkt ruht auf der Notwendigkeit
von kräftigen Investitionen in den Sozialbereichen, vor allem in Care‐Arbeit. Anständige und gut
bezahlte Arbeitsplätze mit gleichzeitigen Begleitmaßnahmen zur tatsächlichen Umverteilung der
unbezahlten Arbeit bringen einen hohen Beschäftigungs‐ und gesamtwirtschaftlichen Effekt. Aber
gerade in diesem Bereich zeigt sich, dass derzeitige Vollzeitarbeit körperlich und psychisch hohe
Anforderungen stellt. Daher ist eine generelle Arbeitszeitverkürzung nötig, die im Sinne des Teilens
auf allen Ebenen umgesetzt werden müsste. Denn mehr und mehr verwehren sich Menschen
bestimmten Arbeitsbedingungen, weil ihnen Gesundheit, Familien und Gemeinschaftsleben ein
höherer Wert sind als Erwerbsarbeit, die krank macht oder keine freie Zeit lässt. Dazu kommt die
Verantwortung für schlechte Arbeitsbedingungen in anderen Teilen der Welt. Ein Lieferkettengesetz
würde hier wirksam Veränderungen einleiten. Es braucht die weltweite Verantwortung und lokales
Handeln in einer solidarischen Wirtschaft, die Wachstum beschränkt und sich in einer lebendigen
Genügsamkeit bewährt.
Das Problem hat jedoch, wie bei der Klimafrage, nichts mit fehlender Information zu tun, sondern mit
Interessen, die dagegen stehen. Deshalb sehen wir es als Aufgabe der Kirche sich mit all ihren
Bewegungen und Pfarren einzumischen. Als Katholische Aktion wollen wir daher bezüglich der
gesellschaftlichen Gestaltung und Weiterentwicklung in Richtung einer humanen und gerechten
Wirtschaftsordnung eine aktive Rolle einnehmen. Jedoch auch Kirchenleitung und Amtsträger:innen
sind hier in der Pflicht. Das beginnt mit einer Vorbildhaltung im eigenen Betrieb. In nur
dreiösterreichischen Diözesen gibt es einen Kollektivvertrag, Mitbestimmung wird mit Hinweis auf
Hierarchie oder Tendenzparagraf oftmals eingeschränkt. Die Beteiligung aller und eine den
Lebensbedingungen gerecht werdende Arbeitszeitverkürzung (z.B. 4 Tagewoche)sind ein Gebot der
Stunde. Unumgänglich ist das Einbeziehen von haupt‐ und ehrenamtlich Engagierten und vielfältige
Kooperation mit anderen aktiven zivilgesellschaftlichen Gruppen.

Als Kirche in der Welt aktiv zu sein reicht hinein in den Alltag aller Christinnen und Christen. Denn
„die Kirche ist dazu berufen, sich an allen Enden der Welt zu inkarnieren und ist seit Jahrhunderten
an jedem Ort der Welt gegenwärtig – das heißt katholisch ́“. (Fratelli tutti 278).