Gilt die Soziallehre auch für die Kirche?
Dieser Frage geht Karl Immervoll in seinem Kommentar zur Subsidiarität nach. Sie ist ein wichtiges Thema auf unserem Weg des Synodalen Weges.
Als wir in den 80er Jahren seitens der Pastoralassistent*innen der Diözese St. Pölten zu der Erkenntnis kamen, dass es einen Betriebsrat braucht, war mein Weg zu Alois Riedlsperger, damals Direktor der Katholischen Sozialakademie Österreichs. Obwohl überzeugter Gewerkschafter, dachte ich doch auch darüber nach, ob es ein Arbeitsverfassungsgesetz als Basis dafür braucht oder ob wir nicht doch aus der Soziallehre eine Art Kirchenverfassung machen könnten. Die schnelle und trockene Antwort von Alois Riedlsperger war: Du wirst am Subsidiaritätsprinzip scheitern. Denn letztlich hat der Bischof das Sagen!
Begriffen habe ich diese Auskunft erst nach und nach in den Verhandlungen mit der Diözesanleitung, sowie bei der Beschäftigung mit dem Text des Arbeitsverfassungsgesetzes und einem Artikel von Oswald von Nell-Breuning über: Subsidiarität in der Kirche (Stimmen der Zeit 3/1986). Während für die Kirche der Tendenzparagraph gilt (§ 132 ArbVG schränkt die Mitbestimmung von Betriebsräten stark ein) wurde auf der Bischofsynode 1985 überhaupt die Frage gestellt „ob … und in welchen Grad“ das Subsidiaritätsprinzip in der Kirche denn überhaupt Anwendung findet? Um diese fundamentale Frage zu stellen nützte es nichts, dass Pius XI. ihm in Quadragesimo (1931) als eines der wichtigsten Sozialprinzipien bezeichnet hat, „an dem nicht zu rütteln und zu deuteln ist“. Pius XII. verstärkt dies in einer Ansprache am 20. Februar 1946 an die neu ernannten Kardinäle. Er beruft sich auf den Epheserbrief „wir sollen nicht mehr unmündige Kinder sein …“ (Eph 4,14), dass nämlich sein Vorgänger daraus das Subsidiaritätsprinzip abgeleitet habe und sagt: „Wahrhaft lichtvolle Worte! Sie gelten für alle Stufen des gesellschaftlichen Lebens. Sie gelten auch für das Leben der Kirche, unbeschadet ihrer hierarchischen Struktur.“
Nicht nur der damalige Papst, sondern auch der Jesuit Oswald v. Nell Breuning stellt in seiner Abhandlung fest, dass Subsidiarität und hierarchische Struktur sich miteinander vertragen. Umso mehr machten wir als Betriebsräte wiederholt andere Erfahrungen: Bei den (mehrfach gescheiterten) Verhandlungen zu einem Kollektivvertrag in der Diözese wurden Hinweise auf die Soziallehre der Kirche als Utopien oder Träumereien abgeschmettert, mitunter sogar mit heftigen Worten. Wenn darauf hingewiesen wurde, dass wir wohl kein Recht haben in Betrieben Arbeitsverhältnisse zu kritisieren, wenn nicht im eigenen „Betrieb Kirche“ die Anstellungsverhältnisse entsprechend geregelt werden, wurde geantwortet, dass in der Kirche ja andere Maßstäbe gelten. Und die jüngsten Organisationsentwicklungsprozesse in der Diözese haben Subsidiarität ignoriert. In der neuen Struktur ist es fraglich, ob dafür Platz ist.
Und was die ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen betrifft noch ein Zitat aus der Ansprache an den 2. Weltkongress des Laienapostolats vom 5. Oktober 1957 ebenfalls von Pius XII.: „Auch hier (in Bezug auf das Laienapostolat, Anm.) möge die kirchliche Autorität das allgemeine Prinzip der Subsidiarität und gegenseitigen Ergänzung anwenden. Man möge den Laien die Aufgaben anvertrauen, die sie ebenso gut oder selbst besser als die Priester erfüllen können. Sie sollen in den Grenzen ihrer Funktion und derjenigen, die das Gemeinwohl der Kirche ihnen zieht, frei handeln und ihre Verantwortung auf sich nehmen können.“
Karl A. Immervoll
Aus der Enzyklika Quadragesimo anno:
79. Wenn es nämlich auch zutrifft, was ja die Geschichte deutlich bestätigt, daß unter den veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leicht von kleineren Gemeinwesen geleistet wurden, nur mehr von großen bewältigt werden können, so muß doch allzeit unverrückbar jener höchst gewichtige sozialphilosophische Grundsatz fest gehalten werden, andern nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.